Wild at heart….

Liebe Katharina,

ich hatte heute eine Begegnung mit einem älteren Herrn. Er lief vor mir durch ein Treppenhaus und trug zwei schwere Taschen voll mit Altpapier. Auf jeder zweiten Treppenstufe machte er Halt und setzte seine Last ab. Ich fragte, ob ich ihm helfen kann und wir kamen ins Gespräch auf dem verregneten Weg zur Altpapier-Tonne („Ich hätte das alleine jetzt halt ganz langsam gemacht. Meter für Meter. Wer in meinem Alter keine Zeit hat, ist doof oder versklavt“). Er erklärte mir, dass er und seine Frau ausgemistet hätten und dass das alles alte Schnittmuster seiner Frau wären, die Zeit ihres Lebens immer viel genäht hat. Aber jetzt wollen sie sich entschlacken, befreien von altem Kram. Wir redeten darüber, wie gut das tut, loszulassen und das weniger oft mehr bedeutet. Er fuhr früher zur See und er berichtete, dass er niemals glücklicher war, als zu der Zeit, als alles, was er besaß, in nur eine Tasche gepasst hat und das mehr Besitz niemals mehr Glück bedeutet. Und dass das heute kaum mehr einer wahrhaben will.

Als ich nach unserem Zusammentreffen durch den Abend nach Hause lief, dachte ich darüber nach, wie Recht er damit hat. Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir unser Leben kuratieren. Bitte nur die perfekte Tasse auf dem massiven Tisch. Darüber nur die passenden Lampen und davor die Designer-Stühle. Das Essen auf dem Teller muss auch für uns alleine arrangiert werden. Du weißt: Ich liebe schöne Dinge und umgebe mich gerne mit ihnen. Das ist ein Teil von mir und wird auch immer so bleiben. Aber ich frage mich, ob das irgendwann mehr und mehr ein Ventil geworden ist. Ein Substitut, um zu verdrängen, dass etwas in unserem Leben immer mehr abhanden kommt. Das Chaos, was unser Herz frei und wild sein lässt. Unvorhersehbarkeit, die erstickt wird, in der  durchgestylten Wohnung und der Internet-Recherche nach den neuen Schuhen. Wir träumen erst davon, anzukommen, in einer Art Hipster-Bürgerlichkeit und bemerken nicht, dass unser Herz immer enger wird und wir immer weniger Luft bekommen, zwischen all den Jobs, den langen Arbeitstagen, der Hetzerei und der Angst, etwas davon wieder zu verlieren.

Doch was heißt das im Umkehrschluss? Kein Nest bauen? Immer weiter wandern, mit nichts mehr, als der Tasche in der Hand? Nicht unbedingt. Ich liebe mein Zuhause, die Tatsache, dass es ein Ort ist, an dem ich Freunde und Familie um den Tisch scharen kann. Rückzugsort und Hort meiner Erinnerungen. Aber dieser Ort darf nicht über uns herrschen. Es darf nicht passieren, dass uns all diese Dinge besitzen, wie man so schön sagt. Unser Kopf und unser Herz müssen weit bleiben. Wir müssen einen klaren Blick behalten. Müssen uns ins Gedächtnis rufen, dass wir nichts behalten können. All das gibt uns nur vermeintliche Sicherheit. Jeden Tag kann alles anders werden. Ein Schritt, ein Blick, eine Begegnung und alles dreht sich wieder in eine andere Richtung.

Ey, einfach mal den Wäscheständer stehen lassen. Das Geschirr morgen abwaschen. Darauf scheißen, dass nach dem Mamor-Trend, der Kupfer-Trend schon wieder vom Messing-Hype abgelöst wurde. Oder wie auch immer. Lieber darauf hören, was man liebt. Was einen glücklich macht. Und davon dann ganz viel tun. Egal, ob das in unseren Plan passt oder leider völlig unpassend in unser Leben crasht. Uns die Zeit dafür nehmen. Und vielleicht anerkennen, dass es auch das Chaos ist, das uns die Wärme in den Bauch streut.

Es liest sich so oft und sagt sich so leicht, dass nur du entscheidest, wie du leben willst und damit glücklich bist. Wir alle sind verstellt von Erwartungen und Anforderungen an uns. Aber am Ende des Tages, ist man es ganz alleine, der entscheidet, ob dann nicht doch vielleicht alles ganz anders sein soll.

Und wenn dein Bauch das sagt, dann hab den Mut, dem Chaos die Tür zu öffnen.

Stillstand ist der Tod.

Ich bin froh, dass wir unser Chaos teilen.

Deine Meike

 

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